WM für Fortgeschrittene
Aktualisiert: 13. Apr. 2023
WM für Fortgeschrittene
„1900“ heisst der geniale Pianist, weil er in diesem Jahr zur Welt kam. „1900“ heisst auch seine Lebensgeschichte, für mich der vollständigste Film aller Zeiten. Auf dem Ozeandampfer geboren und als Baby zurückgelassen, vom Heizer aufgezogen und ein Leben lang nie vom Schiff gegangen. Lässt sich bei der Verschrottung mit dem Schiff in die Luft sprengen. Er kann diesen Dampfer nicht verlassen, weil sich ihm auf der Klaviertastatur schon unendlich viele Möglichkeiten bieten und er den Gedanken, auf dem Festland zu stehen, wo sich ihm plötzlich unendlich mal unendlich viele Möglichkeiten aufdrängen würden, nicht aushalten kann. Das Schiff und der Flügel sind sein System, seine Welt, seine Heimat, mehr braucht er nicht, mehr verträgt er nicht.
Was hat das mit Fussball zu tun, der immer wieder auch weniger handykapierte Denker in seinen Bann zieht? Eine Bekannte hat mir erzählt, dass sie und ihr Mann einmal Dürrenmatt und seine Frau nach Neuchâtel zum Essen eingeladen hätten, und zwar in die Beiz von Facchinetti, dem legendären Präsidenten von Xamax. Sie war natürlich an der Lebensphilosophie des grossen alten Fritz interessiert, der sich zu Beginn auch brav und aktiv dazu äusserte, dann aber den Rest des Abends nur noch mit Facchinetti, über Fussball unterhalten haben soll. Wenn der Spielmacher den Ball zugespielt bekommt, eröffnen sich ihm auch beliebig viele Möglichkeiten. Ein zweites Feld oder mehrere Bälle würden ihn überfordern und vielleicht auch ängstigen. Dasselbe gilt für die Beobachter, für die eine Partie ein geschlossenes System darstellt, welches unendlich viele Interpretationen zulässt, wobei meine natürlich jeweils die Richtige ist.
Fussball-WM in Infantinien, gekühlte Stadien trotz Winter auf der nördlichen Halbkugel. Und darin spucken sie nun um die Wette. Auf jeder zweiten Grossaufnahme spuckt so ein Sauhund auf den Rasen, auf welchem sich die Andern später wälzen. Irgendein Influencer hat damit angefangen und jetzt rotzen sie alle um die Wette. Auf den Tribünen kommen die Fairness und der Respekt zunehmend unter die Räder. Die Zuschauer von Marokko wirken auf Grossaufnahmen durchwegs friedlich und respektvoll. Keine Ahnung woher die nervtötende und systematische Pfeiferei immer dann kommt, wenn der Gegner den Ball hat. Die FIFA führt doch eine Fairnesswertung, welche vor einem Losentscheid noch zur Geltung kommen sollte. Da könnte man allzu hirnrissiges Verhalten der Fans auch negativ einfliessen lassen.
Es gäbe in dieser Aufzählung von menschlichen Glanzleistungen noch viel mehr beizufügen wie zum Beispiel die Schwanzpräsentation des besten Torhüters in Form eines Handschuhs, die Liebkosung desselben Körperteilchens durch den besten Captain des Turniers oder nicht zuletzt die unsägliche Aktion des Walliser Emirs mit Messi’s Mänteli, ein klassischer Übergriff zur Selbstinszenierung würde ich mal vermuten, weil Leo nicht den Eindruck erweckt, vorher gefragt worden zu sein.
Aber jetzt zum Fussball. Mit gestreckten Bein, die Sohle voraus und mit voller Wucht auf das Fussgelenk des Feindes rasen gibt ein ernsthaftes „Meimei“, im allerschlimmsten Fall vielleicht sogar eine Verwarnung. Man fragt sich, wie die Schiedsrichter da gebrieft werden. Der alleroberste Schweizer Friedensengel wird zugeschaltet und findet das alles bedeutend weniger massiv als früher und die Toleranz seiner Unparteiischen bewundernswert. Frage beantwortet. Dann gibt es seit einiger Zeit das sogenannte „taktische Foul“: Wer mit einem Foulspiel einen erfolgversprechenden Gegenangriff cancelt bekommt gelb. Kluge Regel, mal eingehalten, mal nicht. Kriterium unbekannt und schleierhaft. Wenn wir schon bei den Regeln sind: Warum ist es ganz offensichtlich erlaubt, sich nach einem Pfiff des Schiedsrichters vor den Ball zu stellen oder gar diesen ein paar Meter mitzunehmen, um die umgehende Ausführung eines Freistosses zu sabotieren? Die neue Regel nach meinem Geschmack: Nach einem Freistosspfiff hat sich die bestrafte Mannschaft vom Ball sofort mindestens 9 Meter zu entfernen und berührt werden darf dieser schon gar nicht.
Den grauen Herren von der FIFA würde ich mal einen Besuch auf dem Landhockeyplatz empfehlen. Teilweise schräge Regeln, die ich jetzt noch nicht begriffen habe, zugegeben. Aber sie kennen ein Instrument, welches eine viel differenziertere und klarere Regelauslegung ermöglicht: Die „Kurze Ecke“, eine Art Schmalspurpenalty. Die belohnte Mannschaft darf beliebig viele Spieler ausserhalb des runden Strafraums versammeln, die Verteidiger lediglich den Goalie und vier Feldspieler auf der Torlinie. Einer der Angreifer begibt sich mit dem Ball auf den Schnittpunkt von Strafraum- und Grundlinie und spielt den Ball scharf und flach zu den Kollegen an der Strafraumgrenze. Sobald der Ball gespielt ist, dürfen alle überall hin laufen. Im Gegensatz zum normalen Penalty, den die Hockeyaner auch kennen, ist die kurze Ecke zwar auch gefährlich, aber weniger häufig erfolgreich und erlaubt so eine konsequentere und härtere Anwendung aller Regeln. So gäbe also beim Fussball die Ballberührung mit der Hand immer einen Freistoss, innerhalb des Strafraums eben eine kurze Ecke und nur bei klar erkennbarer Absicht einen Penalty. Ein Foul innerhalb des Strafraumes gäbe mindestens eine kurze Ecke, in indiskutablen Fällen einen Penalty.
Beim internationalen Juniorenturnier in Altstetten wird immer mal wieder eine neue Idee getestet wie zum Beispiel ein Freistoss an Stelle eines Out-Einwurfes. Vor ein paar Jahren haben sie einen Versuch gestartet, der schon etwas seltsam daherkommt wenn man zum ersten Mal davon hört, aber absolut Sinn macht. Die Entscheidung in KO-Spielen fällt immer in den 30 Minuten der Verlängerung, aber bei Unentschieden nach der regulären Spielzeit gibt es zuerst ein Penaltyschiessen. Derjenigen Mannschaft, welche dieses gewinnt, genügt in der Verlängerung ein Unentschieden. Das hat zwei grosse Vorteile: Eine Niederlage in der „Lotterie“ Penaltyschiessen kann man in der Verlängerung noch korrigieren und es ist in diesen 30 Minuten immer eine Mannschaft im Rückstand und damit an offensiven Aktionen interessiert.
Dann wäre da noch etwas zum Thema Ausbildung und Taktik. Diskutiert und gelobt oder getadelt wird fast ausschliesslich nur die Mannschaftstaktik, deren Wirkung oft überschätzt wird. Viel entscheidender erscheinen mir die Entscheide der einzelnen Spieler, die von der spontanen Spielintelligenz und nicht zuletzt von der Ausbildung abhängen. Wenn man weiss, wie tödlich Freistösse, Flanken und Ecken sein können, kann man nur noch staunen, wie unkonzentriert und schludrig die immer wieder getreten werden. Da gab es doch beispielsweise den guten alten Ludovic Magnin, der weit weg vom Tor scharfe Flanken Richtung entfernte Torecke mit extremem Effet schlug und die Torhüter, die nie wussten ob der Ball noch abgelekt wird, zur Verzweiflung brachte. Gibt es Trainer, welche ihn bei der Ausbildung zitieren? Von einem Profi sollte man jedenfalls erwarten können, dass ihm so was mindestens in der Hälfte aller Versuche gelingt.
Oder der Umgang mit hüfthohen Bällen. Sie hauen im Stehen drauf und können keinen Spagat. Die Folge? Das Bein bewegt sich von unten nach oben und der Ball landet im Nachthimmel. Das Rezept dagegen hat der Franzose auf meiner Illustration eindrücklich demonstriert. Er lässt sich seitlich fallen, was ihm eine horizontale Beinbewegung und hier sogar einen Aufsetzer ermöglicht. Ein Paradebeispiel für Einzeltaktik ist auch die Verteidigung gegen Doppelpassspiel. Jan Sobotkjevic war Hochschulsportlehrer und hat unsere ETH-Auswahl extrem minimalistisch „trainiert". Gegen die technisch hervorragenden Genfer erwartete er eine Invasion mir Doppelpässen und sagte uns vor dem Spiel nur: „Lauf dem Spieler nach. Wenn du dem Ball nachrennst, bist du verloren.“ Und was machen die Kerle an der Weltmeisterschaft immer wieder bei zwei gegen zwei?
Eigentlich sollte dieser Blog mit einer Tirade gegen den meistüberschätzten Fussballer Europas enden, aber ich erspare mir das lieber. Der hat es ja auch nicht leicht mit einem Alten, welcher öffentlich, unverhohlen und straflos eine Journalistin mit einer Vendetta bedroht. Man muss sich schon fragen, ob der Weltmeistertitel der U17 seinerzeit den Schweizer Fussball in allen Belangen weitergebracht hat.
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